Die Mythen des Labyrinths – Mehr als nur ein paar Striche

Das Labyrinth. Ein Symbol, das viele kennen, aber nur wenige wirklich verstehen. Es wird oft verwechselt, reduziert, missverstandenals Irrgarten abgetan oder als esoterisches Relikt abgewertet. Dabei ist das Labyrinth viel mehr als ein Muster aus Linien. Es ist ein Symbol, das tief in unserer Psyche wirkt, ein Spiegel für unsere innere Reise, ein Werkzeug der Transformation.



Heute möchte ich einige der Mythen rund um das Labyrinth entwirren und zeigen, wie facettenreich und universell dieses alte Symbol tatsächlich ist.

Rasenlabyrinth in Leipzig

Mythos 1: Das Labyrinth ist ein Irrgarten

Wer „Labyrinth“ hört, denkt oft an verwirrende Wege und Sackgassen. An das Spiel, das verrückte Labyrinth bei dem man den Weg zu den Schätzen durchs Hin& Her schieben suchen muss oder Rätselhefte mit der Überschrift Labyrinth. Doch das ist ein Irrtum. Ein Labyrinth hat nur einen Weg – er führt stets zur Mitte. Keine Sackgassen. Es fordert nicht unsere Orientierung, sondern unser Vertrauen. Es lädt dazu ein, den Weg bewusst zu gehen, Schritt für Schritt, ohne sich ablenken zu lassen.


Die Verwechslung stammt vermutlich aus der Antike, wo die Geschichte des kretischen Labyrinths mit dem Minotaurus entstand. Der Irrgarten, wie wir ihn heute kennen, ist eine später entstandene Interpretation. Labyrinthe hingegen sind seit Jahrtausenden auf der ganzen Welt ein Symbol für Klarheit, nicht Verwirrung.

Ein Gedanke: Warum suchen wir oft Komplexität, wenn die Antwort doch so einfach sein könnte – einen Fuß vor den anderen zu setzen?




Mythos 2: Das Labyrinth ist nur ein römisches Schutzsymbol

Es stimmt, dass die Römer Labyrinthe häufig als Schutzsymbole auf Böden, Münzen und Wänden nutzten. Doch das Labyrinth hat eine viel breitere und ältere Geschichte. Es erscheint in nahezu allen Kulturen mit vielseitigen Zwecken und Bedeutungen:

  • Kreta: Das Labyrinth des Minotaurus aus der griechischen Mythologie ist eines der bekanntesten und symbolisiert Herausforderungen und Transformationen.

  • Skandinavien: Die sogenannten Trojaburgen, oft aus Steinen gelegt, wurden vor allem in Schweden, Finnland und Russland gefunden. Diese begehbaren Labyrinthe dienten möglicherweise dazu, Fischer vor bösen Geistern zu schützen oder hatten rituelle Funktionen bei Sommersonnenwendefeiern. In Schweden gibt es etwa 300 Trojaburgen, in Finnland rund 200 und in Russland etwa 60. Manche Theorien vermuten, dass sie als meditative oder heilende Praxis genutzt wurden (vgl. Schütze, 2011; Jansson, 2019).

  • Mittelalterliche Kathedralen: Labyrinthe wie in Chartres, Frankreich symbolisierten spirituelle Pilgerreisen. Sie ermöglichten es Gläubigen, in der Kathedrale einen symbolischen Weg der Selbsterkenntnis und des Glaubens zu gehen (vgl. McGinnis, 2004).

  • Russische Inseln: Besonders auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer wurden Labyrinthe entdeckt, die teils aus der Bronzezeit stammen. Diese könnten in Verbindung mit Ritualen gestanden haben oder den Weg in die Unterwelt symbolisiert haben (vgl. Savchenko & Kozlova, 2020).

  • Nazca, Peru: In der Nazca-Kultur wurden labyrinthartige Muster in die Wüste gezeichnet, die vermutlich rituelle oder astronomische Bedeutungen hatten (vgl. Reindel et al., 2003).

  • England: Das Glastonbury Tor ist labyrinthartig gestaltet und soll als spiritueller Pfad oder „Chakra-Weg“ dienen (vgl. Rutherford, 2015).

Zusätzlich wurden Labyrinthe in Europa, Asien und Amerika als Tanzplätze, Meditationswege und Symbole für Heilung und Selbsterkenntnis verwendet. Der Gang durch ein Labyrinth wird heute oft als beruhigende Praxis angesehen, die Stress abbaut und den Geist öffnet (vgl. Schütze, 2011).

Labyrinthe waren mehr als Schutzsymbole – sie standen für den Weg des Lebens, das Finden des Zentrums, die Rückkehr zur Quelle.




Mythos 3: Das Labyrinth ist nur esoterisch

Das Labyrinth wird oft als „esoterisch“ abgetan, als wäre es nur für Menschen gedacht, die in Räucherstäbchen-Wolken schwelgen. Doch das greift zu kurz.

In der christlichen Tradition war das Labyrinth ein Mittel zur Meditation. Pilger, die sich die Reise nach Jerusalem nicht leisten konnten, gingen stattdessen das Labyrinth – es symbolisierte die spirituelle Reise, die innere Einkehr.

Besonders im Mittelalter wurden Labyrinthe in Kirchen und Kathedralen gebaut, wie das berühmte Labyrinth der Kathedrale von Chartres. Diese Labyrinthe dienten oft als symbolischer Ersatz für Pilgerreisen nach Jerusalem, die nicht alle Menschen antreten konnten. Durch das Gehen im Labyrinth wurde eine innere Reise vollzogen, die den spirituellen Weg und die Verbindung mit Gott symbolisierte. Es war eine Form der Reflexion und Buße, die zur Mitte – als Symbol für Gott oder das himmlische Jerusalem – führte


Heute nutzen Therapeuten Labyrinthe zur Stressbewältigung. Studien zeigen, dass das bewusste Gehen eines Labyrinths den Blutdruck senken und die Herzfrequenz harmonisieren kann (Artress, L., The Sacred Path Companion, 2006). Es ist kein esoterisches Ornament, sondern ein kraftvolles Werkzeug der Selbstreflexion.

Mythos 4: Es sind doch nur ein paar Striche

Auf den ersten Blick mag ein Labyrinth simpel wirken – ein Muster aus Linien. Doch jedes Labyrinth ist ein archetypisches Kunstwerk. Es verbindet Mathematik, Ästhetik und Symbolik auf einer Ebene, die unser rationaler Verstand oft nicht erfasst.


Der berühmte Psychologe Carl Gustav Jung sah in Symbolen Archetypen, einen Ausdruck des kollektiven Unbewussten. Es sei ein Spiegel unserer inneren Reise, unserer Suche nach Sinn und Zentrum.

Das Gehen eines Labyrinths wird oft als Meditation in Bewegung beschrieben. Jede Kurve, jeder Schritt bringt uns näher zur Mitte – und zu uns selbst.





Mythos 5: Das Labyrinth ist nur Geschichte

Oft wird das Labyrinth als Relikt der Vergangenheit abgetan. Doch es lebt weiter – nicht nur in der Kunst, der Therapie und der Architektur, sondern als etwas weitaus Magischeres: ein lebendiges Wesen, ein Portal zur Erde. Moderne Labyrinthe laden uns dazu ein, die Verbindung zu uns selbst und zur Natur wiederzufinden – in einer Welt, die uns zur Eile drängt.

Jedes Labyrinth atmet die Energie seines Ortes. Es wird zu einem lebendigen Raum, der unsere Schritte führt, unsere Gedanken klärt und uns zur Mitte – zum Herzstück unseres Seins – zurückbringt. Man könnte sagen, dass ein Labyrinth uns erdet und gleichzeitig Türen zu neuen Ebenen der Wahrnehmung öffnet. In Hospizen schenkt es Trost, in Parks lädt es zur Reflexion ein, und in Gärten wirkt es wie ein stiller Wächter, der uns an die Zyklen des Lebens erinnert.

Ein Labyrinth ist kein statisches Muster, sondern ein Bewegungsraum. Während wir es durchschreiten, können wir spüren, wie es uns mit der Erde verbindet – als wäre es ein leises Flüstern des Planeten selbst. Seine verschlungenen Wege sind nicht nur Linien im Sand oder Stein, sondern eine Einladung, tief in uns hineinzuhorchen und die Magie des gegenwärtigen Moments zu erleben. Es ist ein lebendiges Symbol, das sich immer wieder neu entfaltet, wie das Leben selbst.

Fazit: Das Labyrinth als Spiegel und Werkzeug

Das Labyrinth ist kein Rätsel, das gelöst werden muss. Es ist ein Raum, der gehalten wird – für die Fragen, die wir mitbringen. Für die Antworten, die wir in uns finden.

Es ist mehr als ein Symbol – es ist eine Erfahrung. Eine Einladung, langsamer zu werden, den Weg bewusster zu gehen, die Mitte zu suchen – und zu finden.

Vielleicht findest du dein Labyrinth nicht auf dem Boden einer Kathedrale oder in einem Garten. Vielleicht findest du es in dir selbst.



Quellen:


• Artress, L., The Sacred Path Companion: A Guide to Walking the Labyrinth to Heal and Transform, 2006.

• Jung, C.G., Man and His Symbols, 1964.

• Kern, H., Through the Labyrinth: Designs and Meanings over 5,000 Years, 2000. McGinnis, J. (2004). Labyrinths in Medieval Churches: Symbols of Pilgrimage and Faith. Medieval Studies Journal.

  • Savchenko, A., & Kozlova, I. (2020). Bronze Age Labyrinths of the Russian Arctic: Rituals and Cosmology. Arctic Anthropology Journal.

  • Schütze, J. (2011). Die Trojaburgen Skandinaviens: Funktion und Bedeutung in prähistorischen Kulturen. Archäologie in Europa.

  • Jansson, L. (2019). Nordic Stone Labyrinths: Myths and Realities. Scandinavian Folklore Studies.

  • Reindel, M. et al. (2003). The Geoglyphs of Nazca: Ritual Landscapes of Ancient Peru. Latin American Antiquity.

  • Rutherford, A. (2015). Sacred England: Glastonbury and Its Mystical Paths. British Heritage Review.